Donnerstag, 3. Oktober 2013

Rezension: Eric Hobsbawn: Das Zeitalter der Extreme – Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts



Erster Teil: Das Katastrophenzeitalter
Mit dem „Katastrophenzeitalter“ meint Hobsbawn die Zeit der beiden Weltkriege, die Leid verursacht haben, in einem noch die dagewesenen Ausmass. Ein Viertel der unter fünfundzwanzigjährigen Studenten von Oxford und Cambridge, die in den Krieg eingezogen wurden, wurden beispielsweise im ersten Weltkrieg getötet (S.43). Besonders solche britischen Oberschichtler seien sehr oft Gentlemen gewesen und seien vor ihren Soldaten in den Kampf gerannt und wurden daher relativ oft getötet.
Wenn man all den schrecklich hohen Verlustzahlen, wie zum Beispiel im ersten Weltkrieg 116‘000 tote US-Amerikaner, 1,6 Millionen tote Franzosen 800‘000 tote Briten und 1,8 Millionen tote Deutsche (S.43) liest, macht das Eindruck. Aber ehrlicherweise muss man zugeben, dass diese Statistik mit den toten Eliteuniversitäts-Studenten, viel persönlicher und daher stärker wirkt.
Die Zeit bis 1945 ist auch ein „Untergang des Liberalismus“ und gleichzeitig ein Sieg des Faschismus. Hobsbawn schreibt, dass nur weil die liberal-demokratischen Kräfte versagt haben, der Faschismus so stark werden konnte. Ich denke, das ist ja heute Konsens in der Forschung.
Zweiter Teil: Das Goldene Zeitalter
Mit dem „Goldenen Zeitalter“ meint Hobsbawn die Zeit nach dem Krieg, die erst rückblickend als einer der wirtschaftlich bedeutensten Zeitabschnitte der Menschheit erscheint, wenn sie nicht sogar die bedeutendste ist.
Diese Zeit ist auch vom Kalten Krieg geprägt. Der „Weltsozialismus“ und der „Weltkapitalismus“ duellieren sich im Fernduell. Hobsbawn hält dennoch fest, dass die beiden Lager ihre Grenzen akzeptiert haben.
Ebenfalls beleuchtet wird der „real existierende Sozialismus“. Immer wieder wird der interessante Gedanke aufgeworfen, dass viele Experten auch im Westen davon ausgingen, dass „der Sozialismus“ den „Weltkapitalismus“ überholen würde, wirtschaftlich gesehen.
„Und in den ersten fünfzehn Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wuchsen die Wirtschaften des ‚sozialistischen Lagers‘ beträchtlich schneller als die des Westens – so viel schneller, dass der sowjetische Staatschef Nikita Chruschtschow und selbst der britische Premierminister Harold Macmillan ernsthaft davon überzeugt waren, dass – während die Kurve der Wachstumsrate immer weiter nach oben zeigte – die sozialistische Produktion die kapitalistische in absehbarer Zeit überholt haben würde. Mehr als nur ein Wirtschaftsexperte musste sich in den fünfziger Jahren fragen, ob so etwas nicht tatsächlich eintreten würde.“ (S.471)
Solche Gedanken habe ich mir bisher selten gemacht. Aber Hobsbawn kritisiert später im Buch auch die UdSSR. Beispiel: „[…] während rein bäuerliche Agrarbetriebe oft mit grösserem Erfolg Subventionen von Regierungen ernteten als Profiten von den Feldern.“ (S.479)
(Das spiegelt in meinen Augen auch gut die Situation in der Schweiz dar.)
An „Das Zeitalter der Extreme“ überzeugt neben der unglaublich breiten Kompetenz (welche manchmal schon fast erdrückend ist) die Fähigkeit von Eric Hobsbawn einen Sachverhalt  auf den Punkt zu bringen.
Dritter Teil: Der Erdrutsch
Dieses „goldene Zeitalter“ endet, gemäss Hobsbawn abrupt im Jahr 1973. So schreibt er: „Die Geschichte des 20. Jahrhunderts war seit 1973 die Geschichte einer Welt, die ihre Orientierung verloren hat und in Instabilität und Krise geschlittert ist.“ (S.503)
Bisher hatte ich mir gar nicht so vor Augen geführt, dass es in den 1970er Jahren als auch in den 1980er Jahren einige Krisen gab. Doch seit ich Hobsbawn gelesen habe, wurde mir immer mehr klar, wie es gewesen sein könnte. (Die Krisen spiegeln sich natürlich auch in der Schweiz wieder, was ich letztens auch in der Arbeitslosenentwicklung der Schweiz in den letzten 80 Jahren gesehen habe.)
Dieser Teil schliesst auch das „Ende des Sozialismus“ mit ein. Schlussendlich, schreibt, dass der Sozialismus darunter gelitten hätte, dass der Staat dem Verbraucher vorgeschrieben hätte, was er brauche. (S.616)
Das Kapitel über das Ende des Sozialismus hat mich stark beeindruckt. Hobsbawn stellt sich aufrichtig die Frage, ob damit nicht auch der Sozialismus als Ganzes gescheitert ist. Das gescheiterte Experiment des „real existierenden Sozialismus“ sei zu trennen von der generellen Frage des Sozialismus (S.616)
Zum Schluss zitiert Hobsbawn den Ökonomen Oscar Lang der aus den USA in sein Geburtsland Polen zurückgegangen ist, um beim Aufbau des Sozialismus mitzuhelfen: „[…] Hat es eine Alternative zu den wahllosen, brutalen und im Grunde völlig planlosen Vorwärtssturm des ersten Fünfjahresplans gegeben? Ich wollte, ich könnte die Frage bejahen, aber das kann ich nicht. Ich weiss einfach keine Antwort.“ (S.617)

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